Die österreichische Gesellschaft ist durch eine rückläufige Entwicklung der Geburtenrate bei gleichzeitiger Zunahme der Lebenserwartung gekennzeichnet. Diese beiden Faktoren bewirken einen Anstieg des durchschnittlichen Alters einer Bevölkerung. Damit einher geht zum einen die generelle Zunahme von altersbedingten Erkrankungen und zum anderen nimmt auch die Wahrscheinlichkeit zu, zeitgleich an mehreren, wiederkehrenden, chronischen Erkrankungen oder Symptomen zu leiden. In diesem Fall spricht man von Multimorbidität. Neben den Auswirkungen dieser Entwicklung auf der Individualebene eröffnet sich auch auf der systemischen Ebene ein Spannungsfeld, da das Gesundheitssystem einen effizienten Umgang mit den vorhandenen Ressourcen sicherstellen muss. Vor dem Hintergrund dieser demographischen Herausforderungen und der steigenden Lebenserwartung kommt deshalb dem Thema der Multimorbidität eine zunehmende Bedeutung zu. Die Anzahl der Personen, welche zeitgleich an mindestens zwei chronischen Erkrankungen leiden, wird in den kommenden Jahren kontinuierlich ansteigen. Betroffene Personen haben einen komplexen Betreuungs- und Versorgungsbedarf, dem in koordinierter Weise begegnet werden muss, um den Anforderungen an ein effektives und effizientes Versorgungssystem entsprechen zu können.
Vor diesem Hintergrund widmet sich das CCIV seit dem Jahr 2015 dem Thema der Multimorbidität. Nach der Erstellung eines Ist-Standsberichtes, welcher anhand von Literaturrecherchen, Datenanalysen und Expertinnen- und Expertenbefragungen einerseits den Status quo der Versorgungssituation darstellt und andererseits sowohl Problembereiche als auch mögliche Verbesserungsansätze identifiziert hat, standen im Jahr 2016 Konzeptarbeiten in Richtung eines optimierten Versorgungsmodells im Mittelpunkt. Im Rahmen dieser Arbeiten wurde besonderer Wert auf die Entwicklung von umsetzbaren und bedarfsorientierten Ausgestaltungsmöglichkeiten für eine integrierte Versorgung multimorbider Personen gelegt. Um dies zu erreichen, erfolgte die Ausarbeitung unter Einbindung verschiedener in die Versorgung involvierter Institutionen sowie Expertinnen und Experten im Rahmen von multiprofessionell besetzten Arbeitsgruppen.
Im Jahr 2017 entwickelte das CCIV ein für die hausärztliche Praxis geeignetes geriatrisches Assessment für multimorbide Personen mit komplexem Versorgungsbedarf, das Patientinnen und Patienten mit individuellem Behandlungs- und Betreuungsbedarf dienen soll. Dazu wurden, ausgehend von im deutschsprachigen Raum bestehenden multidimensionalen Assessment-Instrumentarien, entsprechende Tests ausgewählt und in einem Instrumentarium zusammengestellt. Dieses (CCIV-Assessment) wurde zunächst bilateral mit externen Expertinnen und Experten der Geriatrie abgestimmt und in weiterer Folge einer österreichweiten Befragung von niedergelassenen Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern mit Geriatriediplom zugeführt. In dieser Befragung wurde das CCIV-Assessment als inhaltsvalide, operationalisierbar und praxisnahe bewertet. Das Instrumentarium stellt somit eine gute Grundlage für eine bedarfsgerechte, integrierte Planung der weiteren Versorgungsinterventionen bei geriatrischen multimorbiden Patientinnen und Patienten in der niedergelassenen Primärversorgung dar.
Das erarbeitete Instrumentarium wurde im Jahr 2018 einem Praxistest unterzogen und hinsichtlich der Zufriedenheit der Leistungserbringerinnen und -erbringer in der alltäglichen Praxis evaluiert. Dazu wurde das CCIV-Assessment österreichweit in der hausärztlichen Praxis bei Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern eingesetzt und erprobt. Parallel dazu wurde für das Management des individuellen Versorgungsbedarfs ein Versorgungsplan entworfen, der einen Überblick über das Versorgungsgeschehen ermöglicht und der Kommunikation aller beteiligten Personen dient.
Als weitere Bausteine eines künftigen Versorgungskonzepts hat das CCIV darüber hinaus die wissenschaftliche Erarbeitung von weiterführenden, klinischen Pfaden für Diagnostik, Behandlung und Zuweisung von geriatrischen Patientinnen und Patienten mit feststellbaren Beeinträchtigungen in den untersuchten Dimensionen Schmerz, Demenz, Depression, Mangelernährung und physischen Bewegungseinschränkungen im Alter beauftragt. Das Ziel der Pfade ist es, in übersichtlicher Form für die Zielgruppe der Hausärztinnen und Hausärzte auf wissenschaftlicher Basis einen fundierten Überblick über relevante Empfehlungen aus bestehenden Leitlinien bzw. bestehender Literatur zu geben sowie auf gegebenenfalls bestehende österreichische Spezifika in der Versorgung hinzuweisen (z.B. Off-Label-Behandlung), um so eine optimierte integrierte Versorgung (langfristig kontinuierlich, Versorgungsstufen-übergreifend und interdisziplinär) zu definieren. Die Pfade stellen eine praxistaugliche Entscheidungshilfe mit Fokus auf den niedergelassenen Bereich inklusive Abgrenzung der Zuständigkeiten (Allgemeinmedizinerin und -mediziner als primäre Anlaufstelle) dar und verstehen sich als Beitrag für eine einheitliche und evidenzbasierte Versorgung. Sie werden im Sinne eines Servicetools für die hausärztliche Praxis österreichweit allen niedergelassenen Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern mit Kassenvertrag zur Verfügung gestellt.